Gedankenleerraum


Tick, tack, tick, tack... Zeit ist schon eine seltsame Sache. Hat man zu wenig von ihr, entwickelt man eine derartige Gier auf sie wie ein Kettenraucher auf die nächste Fluppe, hat man dann allerdings mal genug Zeit, hat man schnell genug von der Zeit als solche.
Tick, tack, tick, tack... Juhu, wieder sind 4 Sekunden vorbei! Halt, inzwischen sogar schon 8, nein 10...
Tick, tack, tick, tack... 4 Sekunden, was ist das schon? Einmal den Rotz nach oben ziehen und schlucken, und sich kratzen. Herrgott, ein Mensch wird heutzutage 82 Jahre alt! Was ist da schon ein Tag...
Tick, tack, tick, tack... Menschen sind irgendwie wie Maschinen, stehen sie still, setzen sie Staub und Rost an. Hätte ich wenigstens ein Buch mitgenommen von zuhause! Aber ich konnte ja nicht ahnen, dass sie mich wegen etwas Fieber einkassieren würden.
Tick, tack, tick, tack... Ob es wohl einen Menschen auf der Welt gibt, der Krankenhäuser mag? Ich meine, bis auf die Ärzte und Pfleger natürlich, an jemandem rumzuschnippeln kann ich mir - sofern die Neigung dazu da ist - ja noch ganz lustig vorstellen.
Tick, tack, tick, tack... Hätte es mich wenigstens so schlimm erwischt wie den Kerl neben mir. Der iss so fertig, dass er den ganzen Tag schläft. Ich will gar nich wissen, was er hat und ob es ansteckend iss.
Tick, tack, tick, tack... Das ist auch der Grund, warum ich erst zum Doktor gehe, wenn's mich wirklich derbe erwischt hat, die Wartezimmer könnten ja in Bazillenspielplätze umbenannt werden.
Tick, tack, tick, tack... LANGWEILIG... L-A-N-G-W-E-I-L-I-G...
Tick, tack, tick, tack... halb Fünf... ich lieg jetzt schon eineinhalb Stunden hier und kein Schwein hat nach mir gesehen!
Tick, tack, tick, tack... der Innenarchitekt hat auch noch nie was von Feng Shui gehört. Was haben wir hier: Eine wunderschöne limonengrüne Wand mit dekorativem weißen Streifen, wodurch an einer der Kopfseite des Bettes die Plastikleiste die den modernen Patienten mit Steckdosen, Radio und anderen Sachen - vielleicht Luft für die Beatmungsmaschine? - versorgt, darüber hinaus befindet sich in der rechten Ecke eine Halterung für einen Fernseher, natürlich ohne den selbigen zu beherbergen.
Tick, tack, tick, tack... Mist, ich hätte das Luxusmodell nehmen sollen, vielleicht wär da ein Radio serienmäßig eingebaut gewesen - wobei dann würd ich ja den anderen aufwecken - wobei², so wie der aussieht weckt den nichts auf, was für ein Glückspilz.
Tick, tack, tick, tack... Auf der weißen Decke ist ein ziemlich langer und verzweigter Haarriss, neben der wechselnden Gesichtsfarbe meines Nachbarn noch definitiv das Interessanteste im Raum, wenn man bedenkt, dass mein Fenster lediglich einen wunderbaren Ausblick auf eine beige, rauverputzte Häuserfassade - ohne Fenster wo man spannen könnte - hergibt.
Tick, tack, tick, tack... Die Tür geht auf! Oh Gott, ich fühle mich wie ein kleines Kind an Weihnachten! Es sind jetzt ziemlich genau eine Stunde und 50 Minuten vergangen. Meine Aufregung legt sich, als ich erkenne, dass es sich nur um zwei Pfleger handelt, sie wollen meine Temperatur messen. Auf meine Frage, wann der Herr Doktor vorbeikommt, sagt man mir, dass das heute nichts mehr wird. Panik macht sich in mir breit...
Tick, tack, tick, tack... Ich muss lachen, und habe einen dicken Kloß im Hals, wie ich ihn zuletzt als schluchzendes Kind verspürte. Natürlich weine ich nicht, ich bin erwachsen und es wäre lächerlich zu weinen nur weil man sich ein Fieberthermometer in den Arsch stecken soll um die Temperatur zu messen... Achja, ich habe immer noch 39,6 Temperatur, wie schon die letzten drei Tage auch.
Tick, tack, tick, tack... Ich hätte zuhause etwas essen sollen, gut dass mir meine Mutter noch ein paar Kekse eingepackt hat.
Tick, tack, tick, tack... ich versuche, in irgendwas etwas zu sehen, in Gedanken an etwas zu schreiben aber selbst wenn ich eine gute Idee hätte, ich hab ja nichts zu schreiben.
Tick, tack, tick, tack... die Tür öffnet sich wieder, es sind nun zwei Stunden und 23 Minuten vergangen. Meine kindlich naive Freude von vorhin war Misstrauen, der Sorte welche ein verletztes Tier gegenüber seinen Peinigern verspürt, gewichen. Diesmal hatte ich Glück, ich werde lediglich nach meinem Wunsch für das Abendessen gefragt, welches nach meiner Erkundigung nach endlich um 18:00 Uhr geliefert werden soll.
Tick, tack, tick, tack... Meine Glieder schmerzen durch das hohe Fieber wie die Hölle. Witzigerweise bereiten mir die absonderlichsten Verrenkungen meines Körpers die mindesten Qualen.
Tick, tack, tick, tack... 17:50: Ich habe jetzt eine Beschäftigung gefunden; ich warte auf das Abendessen, zu meiner Überraschung öffnet sich "schon wieder die Türe" der Pfleger, der mich auch schon die letzten Male besuchte, betritt mit einer Schwester den Raum. Gezwungen freundlich machen sie mich darauf aufmerksam, dass es wohl das beste für mich wäre, würde ich an den Tropf angeschlossen werden. Ich habe Angst vor Spritzen, ich versuche ihr das Vorhaben auszureden, natürlich erfolglos. Ich bin froh, dass der Pfleger die Ader sofort findet und fühle mich endgültig zum Objekt degradiert.
Tick, tack, tick, tack... das Essen ist endlich da. Die Suppe sieht weder Appetit anregend noch nahrhaft aus. Aber das muss sie nicht, immerhin sprechen wir hier über Krankenhausessen. Nach dem Essen steht wieder das Messen der Temperatur in meinem Dickdarm an, die Prozedur inzwischen bekannt. Ich versuche, mich zu entspannen und schiebe das mit einer Plastikhülle ummantelte Thermometer langsam in meinen After bis ich denke, dass es weit genug drin ist. Danach warte ich wie ein angeschlagener Preisboxer in der 3. Runde auf den erlösenden Gong, in meinem Fall natürlich eher ein leises Pipen aus unteren Regionen.
Tick, tack, tick, tack... ich wünschte, ich wäre etwas müder. Mein Nachbar, obwohl kurz geweckt, war kein ergiebiger Gesprächspartner. Unsere Konversation beschränkte sich auf ein Austauschen der Krankheitsgeschichte und der Bestätigung wie langweilig und scheiße Krankenhäuser doch seien. Meine Hoffnung er könnte klüger sein und etwas zur Unterhaltung mitgenommen haben, erfüllte sich leider nicht, so dass wir uns wieder der Kunst des Schweigens zuwandten.
Tick, tack, tick, tack... Noch immer konnte ich in dem verzweigten Haarriss nur einen verzweigten Haarriss erkennen. Es war inzwischen 19:30. Man konnte nicht sagen, es sei nichts passiert. Immerhin wich die beige Häuserfassade erst einem unentschlossen Grau und inzwischen einem markanten Schwarz, leerte sich - tröpfchenweise - der Tropf und ebenso, nur häppchenweise, meine Keksschachtel.
Tick, tack, tick, tack... Inzwischen hatte sich auch auf meiner Hitliste der menschlichen Grundbedürfnisse einiges getan. Durst hatte zuerst den Hunger auf der Rangliste überholt und lieferte sich nun mit dem Wunsch nach intellektueller Stimulation ein Kopf an Kopf - Rennen. Trotz ihrer Gräueltaten an mir, rief ich mit der entsprechenden Taste einen Pfleger, der sich auch überraschend kooperativ zeigte und mir tatsächlich extrem mineralhaltiges Mineralwasser besorgen konnte. Sehr bekömmlich wenn man immerhin noch 39,2 Fieber hat und der Magen fast komplett leer ist.
Tick, tack, tick, tack... Übelkeit schoss überraschend aus dem hinteren Verfolgerfeld und setzte sich an die Stelle von Durst.
Tick, tack, tick, tack... Es war Neun Uhr als zum letzten Mal für heute ein Pfleger in den Raum trat, ich rechnete mit einer weiteren Dehnübung meine Darms und wurde nicht enttäuscht. Doch war diese erst das Stretching für den eigentlichen Star des Abends. Ein, dem Kaliber einer kleinen Pistole ähnelndes Zäpfchen sollte ich in meinem Arschloch versenken. Wieder der Klos im Hals, wieder die Ohnmacht, wieder die rechte Hand am Arsch. Um auch sicher zu gehen, dass der kleine Schelm bei mir blieb, führte ich ihn soweit ein, dass mein Finger selbst den After berührte, danach hieß es drücken, immerhin bleibt auch ein Zäpfchen nicht freiwillig an diesem Ort!
Tick, tack, tick, tack... der Pfleger war schon längst gegangen, als der Kampf vorüber war und das Zäpfchen von meinem Ausscheidungsorgan aufgenommen, immerhin hatte ich jetzt auch eine Kanne kalten Tee (jedoch von der Sorte die nur heiß schmeckt) für mich und meinen leeren Magen.
Tick, tack, tick, tack... nach weitere Beschäftigung mit dem Haarriss und der Frage wie dunkel eigentlich Dunkel ist, schlafe ich langsam ein. Ich habe immer noch über 39 Fieber, einen leeren Magen und eine volle Blase sowie leichte Übelkeit. Aber morgen wird mich der Doktor besuchen und irgendwann komm ich hier wieder raus...

Wachenroeder

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