.....Die Prinzessin..........Um 3 Uhr 28 klingelte das Telefon. Im Schlafzimmer brannte kein Licht, die Gardinen waren nicht zugezogen. Der volle Mond erschien in seiner ganzen Pracht auf dem klaren Sternenhimmel. Im kalten, in das Schlafzimmer dringenden Mondschein war eine Figur zu erkennen, die auf dem sorgfältig gemachten und heute noch nicht angerührten Doppelbett saß. Sie saß mit gesenktem Kopf und schien tief in Gedanken versunken, doch das Telefon klingelte aufdringlich weiter. Langsam richtete die Figur sich auf, schritt müde um das Bett herum und nahm den Hörer ab.
.....– ...Neufeld.
.....– Jork Schotter vom Boothrahm Krankenhaus, entschuldigen Sie den späten Anruf. – drang eine etwas heisere Stimme aus dem Hörer – Eine unbekannte Patientin wurde soeben auf die Intensivstation gebracht. In ihrem Portmonee befindet sich das Foto und die Telefonnummer von einem gewissen Herman Neufeld. Wir hielten es für angebracht diese Person zu kontaktieren. – bei jedem Wort spannte sich die Figur im Schlafzimmer immer weiter an, bis sie sich, unfähig auf den Beinen zu bleiben, auf das Bett niederließ.
.....– ..Ich bin Herman Neufeld, sagen Sie mir was passiert ist! Wie geht es ihr?
.....– Ein Autounfall. Zu ihrem momentanen Zustand hat der Arzt noch keine Aussage gemacht. Sind Sie ein Verwandter? Könnten Sie am besten gleich morgen früh vorbeikommen, um die Identität der Patientin festzustellen?
.....– Ich bin ihr Freund... Lebensgefährte. Ich komme unverzüglich.
.....– Gut, ich trage Sie ein. Sagen Sie an der Rezeption, dass sie bei Herrn Dr. Steinbauer einen Termin haben. Ich hoffe, dass er zu Ihrer Ankunft die Untersuchung beendet haben wird und Ihnen ein genaueres Bild geben kann.
.....– Danke.
.....– Dafür nicht. Wiederhören.
.....Herman legte auf und ließ den Hörer fallen. Er starrte einen Moment lang vor sich hin und wandte seinen Blick zum Fenster. Der kalte blaue Mond schwebte immer noch an der selben Stelle. Keine auch nur kleinste Bewegung war Draußen zu verzeichnen. Kein Windzug rührte die Baumspitzen, keine Fledermaus strich ihren Schatten über das Gelände. Herman fuhr mit beiden Handflächen über sein Gesicht, richtete sich mit einem Ruck auf und ging aus dem Zimmer.
..........Die U-Bahn kam überraschend schnell. Man konnte von Glück sprechen, dass es die Nacht von Freitag auf Samstag war und die Bahnen wegen dem Nachtsternenverkehr überhaupt noch so spät fuhren. Herman stieg ganz hinten ein und nahm einen Platz am Fenster. Er wusste genau wo sich das Boothrahm Krankenhaus befand, denn er hatte sich vor einem halben Jahr die rechte Hand gebrochen und wurde dort behandelt. Damals ist es auch ein Verkehrsunfall gewesen. Es war am späten Nachmittag, als er mit dem Fahrrad unterwegs war und ein betrunkener Fahrer an einer roten Ampel nicht rechtzeitig zum Stehen kommen konnte. Zufällig überquerte Herman in dem Moment gerade diese Straße. Sein Fahrrad war hin und es ist ein Wunder gewesen, wie er selbst, zwar unter Schock, aber doch nur mit einer gebrochenen Hand davon gekommen ist. Ein Krankenwagen kam ziemlich flott, die Fahrt dauerte nicht lange und kaum wurde er ins Krankenhaus gebracht, schon war sie auch da. Seine Prinzessin. In Gedanken nannte er sie immer nur so, denn für ihn war sie wirklich eine. Sie hatte gespürt, dass ihm etwas zugestoßen war und konnte ihn sofort finden. Es war fast schon mysteriös, aber unglaublich romantisch, wie sie mit einer Tüte Mandarinen ins Zimmer trat, sich mit der Schulter an den Türrahmen lehnte und lächelnd sagte
.....– Dummerchen, mach mir doch nicht solche Angst.
.....– Tut mir leid... Lisa...
.....Herman bekam damals nur einen Gips aufgetragen und durfte, nach dem er sich in einpaar Tagen ganz von dem Schock erholt hatte, wieder nach hause...
.....Diesmal hieß es aber Intensivstation. Das konnte nur etwas wirklich Schlimmes bedeuten. Dieser Gedanke jagte einen Schüttelfrost durch Hermans Schultern und rief ein unangenehmes Ziehen im oberen Bauchbereich hervor. Er ahnte, dass er jetzt nicht Denken durfte. Er musste sich irgendwie ablenken. Noch war er nicht angekommen und wusste nichts Genaues. Es machte also keinen Sinn sich umsonst abzuquälen. Herman fasste sich an die Stirn, doch zog die Hand überrascht wieder weg. Kalter Schweiß glänzte an seinen Fingern. Er ballte die Hand zu einer Faust, doch sie hörte nicht auf zu zittern. Erst jetzt wurde ihm selbst wirklich bewusst, dass er verdammt noch mal Angst hatte. Angst um seine Prinzessin.
.....Die Bahn hielt und die Türen fuhren auf. Er war erst eine Station gefahren. Eine von vielen, die noch kommen mussten, denn das Krankenhaus lag weit außerhalb. Herman stieß ein verzweifeltes Stöhnen aus und schloss die Augen. Menschen stiegen ein. Er hörte sie reden und lachen. Die Bahn fuhr weiter und die angetrunkenen Stimmen verschmolzen zu einer sich immer weiter entfernenden Geräuschkulisse. Herman merkte nicht wie müde er eigentlich war und ehe er sich’s versah, fand er sich in einem Traum wieder.
.....Sie hatte ihr leichtes azurblaues Sommerkleid an. Die Seide glänzte in der Sonne und formte weiche Wellen im warmen Ebbenwind. Das Wasser des atlantischen Ozeans stand ihr bis zu den Knien und sie warf einen verträumten Blick zum Horizont. Herman lag am Strand unter einer Palme und konnte seine Augen nicht von ihrem schimmernden Kleid abwenden.
.....– Die Welt ist ungerecht... – hauchte sie voller Sehnsucht – ...warum haben die Menschen keine Flügel, um wie die Möwen über dem Wasser zu schweben. Stell dir nur den Ausblick vor, den sie haben. Außerdem sind sie frei, überall hin zu fliegen, wo es sie nur hinzieht. Was muss das für ein Gefühl sein? Vieles würde ich dafür geben, um es einmal selbst zu erleben. Auch wenn es nur für einen Tag, nur für eine Minute wäre... – sie schaute über ihre Schulter zurück zum Strand und fing seinen Blick – Ich komme mir so klein vor, Herman...
.....Er stand langsam auf, ging ins Wasser und umarmte sie zärtlich an ihrer Taille. Zum tausendsten Mal merkte er, wie verführerisch schlank seine Prinzessin doch war. Er legte seine Wange an ihre goldblonden Locken und sagte
.....– Die Menschen haben nur aus einem Grund keine Flügel. Nämlich, damit sie sich etwas wünschen können. Denn alles andere haben sie schon.
.....– Du hast wahrscheinlich recht... – seufzte sie.
.....Ihre halbgeschlossenen Augen wanderten traurig über das Wasser und die prächtigen Wimpern verliehen ihr einen rätselhaft romantischen Ausdruck. Sie wandte ihr Gesicht zu Herman und ihre Lippen formten sich unauffällig zu einem spielerisch hinterhältigen Lächeln. In einer fließenden Drehung entwich sie seinen Händen
.....– Was du nicht alles weißt! – ließ sie ihre Stimme hell erklingen.
.....Flink schöpfte sie Wasser und schon flogen ihm karibisch warme Spritzer ins Gesicht, begleitet von vergnügtem Lachen und Planschen. So leicht ließ sich Herman aber nicht unterkriegen. Sie wollte den Strand entlang fliehen, kam im Wasser aber nur langsam voran. Mit einem triumphierenden Ruf holte er sie ein und hob sie in seine Arme. Sie spürte, was jetzt kommen musste und versuchte ihn mit Küssen davon abzuhalten. Vor lauter Lachen wirkte sie dabei aber leider nicht überzeugend genug. In Begleitung von ihrem hervorragend inszenierten, verzweifelten Kreischen und seinem erbarmungslos aufgedonnerten Lachen wurde die Seide nass und legte sich elegant um ihren hinreißenden Körper. Nun war er auf der Flucht und sie stürmte ihm mit süßen Drohungen hinterher. Am Strand angekommen drehte er sich mitten im Lauf um, kam aber unglücklich auf und verknickte sich den Fuß. Natürlich ließ er sich nichts anmerken. Sie war ihm aber dicht auf den Fersen und warf sich im Jagdrausch um seinen Hals. Beide landeten auf dem heißen goldenen Sand. Aufgeregt holte sie Luft und ihre hell blaue Augen schossen Blitze.
.....– Hab ich dich endlich... – lächelte sie verliebt.
.....Sie strich Herman zart über die Wange...
..........– ...Wachen Sie auf. Herr. Ist Ihnen schlecht?
.....Herman machte die Augen auf und sah einen kleinen Mann mit einem teilweise ergrauten Vollbart, im schwarzen Mantel und einer Schirmmütze über sich bücken. Dieser klatschte ihn leicht an die Wange und schaute sichtlich besorgt. Endlich merkte der unbekannte Vollbärtige, dass Herman bereits zu sich gekommen war.
.....– Sie sind wohl während der Fahrt eingeschlafen. – gab er mit einer hohen Stimme zu verstehen. – Die Bahn musste abrupt halten. Kommen Sie, ich helfe Ihnen hoch.
.....Herman wurde klar, dass er auf dem Boden einer U-Bahn liegt. Er ließ sich von dem Vollbärtigen die Hand geben und setzte sich wieder auf seinen Platz. Sein Fuß war eingeschlafen und der Knöchel tat etwas weh, er musste ihn sich beim Sturz verstaucht haben. Der Vollbärtige setzte sich auf den Sitz gegenüber. Immer noch nicht ganz wach, schaute Herman den Mann erst nur unfreundlich an, da dieser seinen schönen Traum von dem letzten Sommerurlaub so taktlos unterbrochen hatte. Doch dann musste er nachgrübeln, warum er sich überhaupt in dieser Bahn befand. Die schreckliche Nachricht des Abends stürzte sich wieder in voller Stärke und Ausweglosigkeit auf Herman. Die Prinzessin war in Gefahr! Sein Gesichtsausdruck wurde anscheinend noch verwegener, denn der Vollbärtige begann jetzt seinen Blick zu meiden und auffällig oft zu blinzeln. Für Sentimentalitäten hatte Herman nach einer solch unsanften Rückkehr zur Realität keinen Nerv mehr. Da die Bahn mittlerweile wieder in Gang war, fragte er sein Gegenüber
.....– Können Sie mir sagen, welche Station die nächste ist?
.....– Die Brahmsallee, soweit ich weiß. – war die Antwort.
.....Es war zu passend um wahr zu sein, denn genau an dieser Station müsste Herman aussteigen, um am schnellsten zu dem ersehnten Krankenhaus zu gelangen. Diese Nachricht gab ihm einen Adrenalinkick und ließ den Schlaf endgültig verfliegen.
.....– Sind Sie sich völlig sicher? – fragte er energisch und wiederbelebt nach.
.....– ...Ja, da muss ich nämlich aussteigen. – der Alte rückte die Schirmmütze zurecht und fing an sich kleine schwarze Handschuhe anzuziehen.
.....Dass der Vollbärtige mit ihm an der selben Station aussteigen wollte, machte Herman komischer Weise Freude. Er empfand eine leichte, sonderbare Verbundenheit zu dem kleinen Alten, der sich gerade konzentriert die größte Mühe gab, seine pummelige Finger in die viel zu engen Handschuhe zu quetschen.
.....– Wollen Sie etwa auch zum Boothrahm Krankenhaus? – wollte Herman bereits im freundschaftlichen Ton wissen.
.....Es erschien ihm recht wahrscheinlich, dass jemand, der mit ihm zusammen um vier Uhr Morgens an der Brahmsallee ausstieg, ebenfalls auf dem Weg zum Krankenhaus sein könnte. Wer weiß, vielleicht hatte noch eine andere, dem Alten sehr wichtige, Person in dieser Nacht auch einen Unfall und jetzt teilte er mit Herman sein trauriges Schicksal. Leider schien der Vollbärtige seine plötzliche Sympathie nicht erwidern zu wollen. Er schaute ihn deutlich unzufrieden an und war wohl selbst nicht mehr froh, so hilfsbereit gewesen zu sein, diesen unhöflichen und aufdringlichen jungen Mann geweckt zu haben. Dennoch antwortete er
.....– ...Nein ...nicht ganz. Ich arbeite im Gebäude genau gegenüber.
.....Was dies zu bedeuten hatte, musste sich Herman selbst erdenken, denn der Vollbärtige zeigte keine Lust mehr sich mit ihm zu unterhalten. Glücklicherweise erklang endlich die sanfte Frauenstimme aus den Lautsprechern an der Decke
.....– „Brahmsallee und zum Boothrahm Krankenhaus.“
.....Die Bahn kam zum Halt und ließ zwei Personen aussteigen. Der Vollbärtige ging im raschen Schritt über die Straße und verschwand in der Dunkelheit. Herman hatte nicht mehr vor, ihm mit weiteren Fragen noch länger auf die Nerven zu gehen. Nun, nachdem er seinen Traum in der Bahn gesehen hatte, ging es ihm etwas besser. Er dachte an die Prinzessin. Auch wenn sie jetzt nicht an seiner Seite und in dem Moment wahrscheinlich gar nicht bei Bewusstsein war, hatte seine Prinzessin es doch geschafft ihm aus der Not zu helfen. Sie bewahrte ihn vor der Qual einer unendlich langen Bahnfahrt voller Sorge, Bedenken und Zweifel, und sie hatte die Zeit nicht nur schneller vergehen lassen, sondern diese auch noch mit einigen Momenten des Glücks erfüllt. Seine Laune besserte sich mit jedem Schritt, der ihn immer näher zum ersehnten Krankenhaus brachte. Er wusste nun ganz genau, sie war am Leben. Es war nur ein Gefühl, aber er war sich dennoch vollkommen sicher. Anders konnte es nicht sein. Er konnte sich nicht irren! Er fand es nur schade, dass er um vier Uhr nachts nirgends Mandarinen kaufen konnte. Ein solches Wiedersehen wäre wirklich nostalgiereich geworden, dachte er.
.....Eine sportliche Figur schritt unter dem gelben Natriumlicht der Straßenbeleuchtung energisch den Fußgängerweg entlang, lief schnell über die Straße und bog zur Brücke ab. Diese machte einen Bogen über der Renze, einem schmalen, aber flinken Fluss, und mündete in einen Straßenring genau vor dem Boothrahm Krankenhaus. Die Figur flog federndes Schrittes die Treppe hinauf und stürzte sich durch die Tür in das steril weiße Licht der Eingangshalle. Es hielt sich keine Seele in dem Eingangsbereich auf. Die Frau an der Rezeption suchte ganze drei Minuten mit verschlafenen Augen irgendwelche Buchstaben auf ihrem Monitor, bis sie, ohne auch nur eine der Anfragen gefunden zu haben, Herman in den linken Flügel entsandte und daraufhin voller Hassliebe den Hörer des erneut klingelnden Telefons zu sich riss. In den Gängen herrschte Stille. Alle Türen waren zu, die Patienten schliefen und das Personal war nicht zu sehen. Sogar die Schritte hallten leise an der Decke. Das änderte sich, je näher Herman dem linken Flügel kam. Hier und da lief ihm eine salatgrün angezogene Schwester über den Weg. Als er schließlich den letzten Übergang passierte, fand er sich in einer ganz anderen Welt wieder. Plötzlich waren lauter salatgrüne Menschen um ihn herum. Alle waren in Bewegung. Sie schrieben etwas im Gehen, wechselten kurze Phrasen untereinander aus, ein Patient wurde auf einem Rollbett von zwei Kollegen zusammen mit einem Infusionshalter in den Aufzug gefahren. Herman versuchte einpaar von diesen grünen Geistern anzusprechen, doch sie waren alle in Eile und schienen ihn, der doch so anders gekleidet war, nicht zu bemerken. Dem energischen jungen Mann wollte der Mut aber nicht ausgehen. Er versuchte sich in den schnellen Arbeitstakt dieser Menschen einzuklinken und drängte sich mit in den Fahrstuhl. Er hoffte in den engen vier Wänden einen Salatgrünen zur Rede stellen zu können und fragte eine gutaussehende Schwester mit dem nettesten, aber gleichzeitig ernstestem Gesichtsausdruck den er gerade aufbringen konnte
.....– Können Sie mir sagen, wo ich jetzt Herrn Dr. Steinbauer finde?
.....Die hübsche Schwester schaute Herman flüchtig an, was ihr aber genügte, um ihn mit ihren scharfen braunen Augen zu messen. Sie zögerte erst, als ob sie nicht befugt sei den Schweigeschwur gegenüber Fremden in dieser salatgrünen Welt zu brechen, doch sie schien die Antwort auf seine Frage zu kennen und entschied sich ihm zu helfen
.....– Vor fünfzehn Minuten ist er im Operationsraum zwei gewesen. Das ist im zweiten Stock – gab sie zu verstehen und drückte in einer gewohnt schnellen Bewegung die Taste mit der Ziffer Zwei. Herman bedankte sich höflich, doch sie hörte ihm nicht mehr zu.
.....Der Fahrstuhl hielt im Zweiten und Herman drängte sich hinaus. Hier sah es kein Bisschen anders aus. Die Menschen liefen hin und her, schlüpften aus Türen, oder verschwanden hinter welchen. Ein kurzer Gang entlang des Korridors genügte, um eine breite Doppeltür mit der Aufschrift OP2 ausfindig zu machen. Herman war klar, dass er womöglich jetzt schon weit über seine Befugnisse als Fremder gegangen ist, indem er sich ohne Begleitperson in diesem Korridor aufhielt. Die breite Doppeltür schrie ihm förmlich zu, dass ein Operationsraum für ihn ohne jeden Zweifel ein Tabu sei, aber er fühlte sich beflügelt und fähig zu allem. Deshalb ging er sicher auf die Doppeltür zu und wäre auch hineingegangen, wenn diese nicht selbst von innen aufgegangen wäre. Zwei salatgrüne Brüder fuhren ein Rollbett hinaus auf dem sich ein alter Mann in einer Sauerstoffmaske befand. Eine Schwester folgte den beiden. Herman musste sich schnell an die Wand drücken, um der Prozession auszuweichen. Kaum ist diese weitergefahren, kam aus den noch schwingenden Türen des Operationsraumes ein überdurchschnittlich großer Mann, der mit seinen grauen Schläfen und einem tadellos weißen um die Schultern übergeworfenen Kittel recht präsentabel aussah. Zu Hermans größter Freude hieß es auf seinem Namensschild in schwarzem Kursiv „Prof. Dr. Steinbauer“. Herman stürmte zu ihm
.....– Herr Dr. Steinbauer! Ich habe nach Ihnen gesucht! – stellte er sich dem Großen in den Weg. Dieser schien ihn aber nicht zu bemerken, schaute flüchtig auf die Uhr und wollte seelenruhig an Herman vorbeigehen.
.....– So warten Sie doch. – griff ihn Herman an den Ärmel – Wir haben einen Termin, wissen Sie noch?
.....Steinbauer drehte sich stirnrunzelnd zu ihm und schaute noch einmal auf die Uhr.
.....– Ein Termin? Das ist Absurd. – erklang sein tiefer Bass.
.....– Ich bin wegen der unbekannten Patientin von heute hier. Sie kam auf die Intensivstation. Sie müssen sich doch erinnern!
.....Der Gesichtsausdruck des Chirurgen änderte sich kein Stück. In seinem Kopf schien keine Gedankenkapazität für Hermans Anliegen reserviert zu sein. Mit Seufzen begutachtete Steinbauer zum dritten mal seine Uhr.
.....– Hören Sie, ich muss jetzt los. – sein ruhiger Blick durchbohrte Hermans Stirn – Glauben Sie mir, ich kann Ihnen nicht helfen. Wenden Sie sich an jemand Anderen. Zum Beispiel an Schotter, er ist für die Verwaltung zuständig.
.....– Schotter? Das ist der Mann, der mich angerufen hat. Aber wo finde ich ihn?
.....– Es ist gerade Schichtwechsel – bemerkte Steinbauer auf seinem Zifferblatt – aber wenn Sie sich beeilen, werden Sie ihn vielleicht noch erwischen. Die Umkleide ist im Erdgeschoss. So, und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich habe noch andere Patienten.
.....Der Arzt drehte sich entschieden weg und ging. Es war völlig klar, dass nichts und niemand ihn jetzt noch von der Absicht abbringen könnte, seinem Hippokratesschwur nachzugehen. Das hatte Herman auch nicht mehr vor. Der Chirurg wurde ihm auf einmal ganz uninteressant. Der Mann schien seine Patienten nicht nach ihrem Aussehen, Biographie und Geschlecht, sondern nur nach ihrer Krankengeschichte zu unterscheiden. Jetzt galt es Jork Schotter zu finden. Wenn dieser Mann hier für die Verwaltung zuständig war, dann würde er zweifellos wissen, in welchem Krankenzimmer die Prinzessin zu finden war.
.....Herman wartete nicht auf den Fahrstuhl. Wie im Rausch hetzte er, über mehrere Stufen springend, das Treppenhaus hinunter. Ins Erdgeschoss hereingeplatzt, machte er sich auf die Suche nach der Umkleide und konnte gerade noch das Ende eines irgendwo hinter ihm laut geführten Gesprächs mitbekommen
.....– ...komm gut nach Hause – zwitscherte eine schöne Frauenstimme und fügte etwas leiser hinzu – und lass ja die Finger von dem Zeug!
.....– Keine Sorge. Ich komm schon zurecht. – antwortete eine etwas heisere Stimme – Schönen Tag noch.
.....Herman blieb wie angewurzelt stehen. Die heisere Stimme. Das war er. Schotter. Mit einem Ruck führ Herman herum und konnte noch sehen, wie eine große Übergangstür sich hinter einem in Zivil gekleideten Mann schloss. Schotter versuchte aus der Welt der salatgrünen Menschen zu fliehen. Das durfte nicht passieren! Herman lief hinterher, doch die salatgrünen Menschen wollten nicht, dass ihr Kollege Herman so leicht in die Finger fällt. Genau vor seiner Nase fuhr ein Rollbett aus dem Fahrstuhl und zwei sich ungeschickt anstellenden Brüder veranstalteten einen kleinen Stau. Fluchend drängte sich Herman vorbei, doch lief geradewegs in eine im Gehen schreibende Schwester. In Eile half er ihr wieder auf die Beine und murmelte eine dumme Entschuldigung. Als er endlich die Übergangstür passierte, war von Schotter nichts mehr zu sehen. Er lief bis zum Ende des Korridors, doch hinter der nächsten Übergangstür war es ebenso leer. Er hatte nun die Welt der salatgrünen Menschen verlassen und war im Korridor allein. Seine Schritte verlangsamten sich und etwas erschöpft blieb er stehen. Der gefühllos verantwortungsbewusste Steinbauer und der flüchtige Schotter fingen an, ihm gewaltig auf die Nerven zu gehen. Jetzt stand er da, mitten in einem leeren Korridor, während seine Prinzessin vielleicht in einem von diesen Krankenzimmern sehnlichst darauf wartete, dass er zu ihr kommt. Seine Lage erschien Herman zu ironisch dumm und bitter. Er lehnte sich an die Wand und rutschte machtlos herunter. So saß er da und überlegte, was jetzt noch getan werden konnte, wo beide Ansatzpunkte, Steinbauer und Schotter, doch so fruchtlos verwirkt waren. Es konnte doch nicht sein, dass er wirklich darauf warten müsste, bis seine Prinzessin als unbekannte Patientin auf der Liste in der Rezeption erscheint. Bis dahin würden noch Stunden, womöglich sogar noch Tage vergehen. So lange konnte er nicht warten.
.....Plötzlich ging eine Tür mit der Aufschrift WC auf. Ein Mann trat heraus und machte im Gehen seine Schultertasche zu. Er bemerkte den sitzenden Herman und die beiden sahen sich verwundert an. Dann wollte sich der Mann in die entgegengesetzte Richtung davon machen, doch Herman hatte sein Sprachvermögen bereits wiedererlangt
.....– Herr Schotter? Jork Schotter? – rempelte sich Herman wieder auf die Beine. Er konnte sein Glück kaum fassen. Es war wirklich der Flüchtling von Vorhin. Der Mann mit der Schultertasche blieb stehen und schaute ihn angespannt fragend an.
.....– Ich bin Herman Neufeld. Sie haben mich heute angerufen. Erinnern Sie sich?
.....Die Züge des Mannes entspannten sich, er starrte in den Boden und murmelte
.....– Neufeld? Neufeld. Herman Neufeld. Ja, allerdings, Herman Neufeld.
.....– Na, Gott sei Dank! Sagen sie mir, wo finde ich sie? In welchem Krankenzimmer ist sie untergebracht?
.....– ...Wer? – Schotter schwankte leicht zur Seite, doch fing schnell wieder das Gleichgewicht. Sein Gesichtsausdruck wirkte höchst abwesend.
.....– Na die Prinzess... ich meine... Lisa, die unbekannte Patientin, das Mädchen auf der Intensivstation. Sie haben meine Telefonnummer aus ihrem Portmonee. Ich komme wegen ihr! – Herman wurde langsam ungeduldig. Irgendwie führte sich Schotter sehr seltsam auf.
.....Bei den Worten „Mädchen“ und „Intensivstation“ schien er aber endlich den Faden gekriegt zu haben. Er blickte hoch und ein etwas dummes Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit
.....– Ach, Sie meinen wohl die hübsche Kleine! Ja, ein äußerst begehrenswertes Exemplar. Kein wunder, dass Sie gleich hierher gestürmt sind. Wo finden Sie nur solche Frauen, mein Junge? – Schotter legte seine Hände Herman vertraulich auf die Schultern und erst jetzt bemerkte dieser die starke Alkoholfahne, die von dem Arzt ausging. Herman befreite sich aus dessen Händen und wechselte den Ton
.....– Lassen Sie die Familiaritäten! Sie haben doch keine Ahnung! Schönheit allein macht niemanden glücklich, aber das werden Sie wohl nicht verstehen. – er sprach in die falsche Richtung, deshalb kam er gleich wieder auf den Punkt zurück – Führen Sie mich sofort zu ihr!
.....– Oh, sieh an! Wir haben hier doch echt einen Romantiker! – Schotter brach in Gelächter aus und stützte sich an der Wand um auf den Beinen zu bleiben – Das ist ja interessant. Keine Sorge! Ihr Mädchen läuft Ihnen schon nicht weg. Oder vielleicht doch? Etwa mit dem linken Nachbar, oder dem rechten? Die braven Kerle sind ziemlich cool drauf, müssen Sie wissen. Heheh.
.....Die dumme Provokation hätte unter normalen Umständen nicht einmal einen überheblichen Blick von Herman erzielt, doch jetzt waren seine Nerven am Ende. Er packte den Betrunkenen an dem Kragen und stempelte ihn saftig gegen die Wand. Mit wutverzerrter Stimme drückte er seine Worte heraus
.....– Ich werde es jetzt nur noch einmal fragen. Überlegen Sie sich ihre Antwort sehr gut! Also. Wo... ist... meine... Freundin?
.....Schotter hob die Augenbrauen, schaute Herman direkt in die Augen und sang die folgenden Worte mit einer etwas erhöhten, langgezogenen Stimme
.....– Na im Leichenhaus, wo denn sonnst... Mein Junge...
.....Hermans Augen weiteten sich. Seine Hände erschlafften und fielen herunter.
.....– Ha, da haben Sie es! – sagte Schotter höhnisch und legte seinen Kragen zurecht – Der Held auf dem weißen Pferd ist da, aber die Prinzessin ist plötzlich verreckt, wie dumm aber auch? Was hast du denn gedacht wie es im Leben zugeht, mein Junge? Friede, Freude, Eierkuchen, oder was?! Ein Unfall auf der Autobahn ist kein Kinderspielchen. Weißt du was passiert, wenn ein rotierender Glassplitter mit dreihundert Stundenkilometern gegen die Schläfe eines Menschen kommt? Das zarte Hirn im kleinen Köpfchen deines Zuckerpüppchens wurde in Sekundenbruchteilen zu Pustekuchen verarbeitet. Und wir dachten erst, es wäre nur eine Schnittwunde... – Schotter spuckte zur Seite. – Na, was sagst du dazu? Was wäre dir jetzt lieber? Nur schön, aber lebendig, oder auch gefühlsvoll und dabei tot?
.....Herman wurde schwarz vor Augen. Ein riesiger Klumpen drohte seinen Hals zu zerreißen. Er schwankte und fiel. Schotter fing ihn auf, setzte auf den Boden und lehnte ihn gegen die Wand.
.....– Komm Junge, das wird dir helfen – sagte der betrunkene Teufel und holte eine Flasche Masons aus seiner Schultertasche hervor.
.....Herman spürte wie etwas flüssiges seinen Hals herunter in den Magen floss. Ein unbekannter Mann mit einem spöttischen Lächeln befand sich in der Nähe und machte noch lange den Mund auf und zu, als ob er etwas sprechen würde. Herman hörte nichts mehr. Seine Augen brannten, doch blinzeln konnte er nicht. Er wusste nicht wo er war. Es machte plötzlich nichts mehr einen Sinn.
..........Ein heller Lichtstrahl fiel Herman ins Gesicht und riss ihn aus dem Schlaf. Er fand sich auf einer Bank nahe des Boothrahm Krankenhauses wieder. Er musste sich an nichts erinnern, die Ereignisse der letzten Nacht haben sich in sein Hirn förmlich eingebrannt. Er stand auf und ging. Weg von dem gehassten Krankenhaus. Auf der Brücke blieb er stehen. Er stand da und sah zu, wie das trübe Wasser unter der Brücke hindurchschnellte. Dann schaute er sich um. Es war niemand in der Nähe, die Straßen waren leer. Auf der zum Krankenhaus entgegengesetzten Seite blieb sein Blick etwas länger. Dort, auf der anderen Straßenseite, hing auf einem großen Gebäude ein Schild, der seine Aufmerksamkeit anzog. „Bestattungshilfe, Müller und Sohn“ hieß es darauf in schwarzem Kursiv. Ein bitteres Lächeln berührte Hermans Lippen. Welch eine schmerzhaft böse Anspielung hat ihm das Schicksal letzte Nacht gemacht, noch bevor er irgendetwas wusste. Ja, das war sein Schicksal, daran durfte es keine Zweifel geben. Er musste sich seinem Schicksal fügen. Er schwankte, lehnte sich nach Vorne und fiel über die Absperrung von der Brücke. Es geschah alles ganz langsam und natürlich, ganz ohne Hektik. Auch wenn jemand in der Nähe gewesen wäre, hätte niemand das Plätschern des Wassers gehört. Nur eine schneeweiße Möwe erhob sich schreiend in die Luft.
..........Einen Monat später läuteten auf dem Stadtfriedhof die Glocken. Ein Sarg wurde in ein frisch gegrabenes Erdloch gelassen. Ein Grabstein, der sich später darüber erheben sollte, lag auch schon an der Seite bereit und die Buchstaben „Herman Neufeld“ waren in den Stein hineingraviert. Nur drei schwarzgekleidete Gäste wohnten der traurigen Prozedur bei. Ein großer Mann mit grauen Schläfen, ein kleiner Mann mit teilweise ergrautem Vollbart und ein schneebleiches, aber unglaublich schönes goldblondes Mädchen mit einem dicken weißen Pflaster an der Schläfe.
.....Fejwin, 26.01.2008
Polly: Schriftgröße normalisiert. Wozu sollte das eigentlich gut sein?Sam Gav: Viel Text. Augen schonen. Tut mir leid. ^^