Fade to Black - Kapitel 4
See You In Hell
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Eine ganze Woche war nun schon vergangen, in der Aeris bei
Vincent wohnte. Tifa, wie sie versprochen hatte, besuchte sie sooft sie
konnte, und brachte auch immer Cloud mit. Cloud schien es große Freude
zu bereiten, Aeris um sich zu haben, und die beiden redeten manchmal
stundenlang, wobei sie größtenteils lachten. Aber trotzdem fiel Tifa
etwas an Aeris auf, was ihr ganz und gar nicht gefiel. Sie versteckte
etwas hinter ihrer Fröhlichkeit, etwas, daß sie auf keinen Fall raus-
lassen wollte.
"Hast du nicht auch irgendwie das Gefül, daß... Aeris sich
nicht ganz so wohl fühlt, wie sie immer vorgibt...?" fragte Tifa Cloud,
als die beiden an einem kalten Februarnachmittag auf dem Weg zu
Vincents Appartment waren.
"Hm? Nein, ich denke, sie ist ganz glücklich." erwiderte Cloud,
"Warum? Hat Vincent sie belästigt oder so?"
"Cloud! Was erzählst du da?!" rief Tifa aufgebracht, "Vincent
ist der höflichste Gentleman, den ich je gesehen habe! Er würde so
etwas NIE tun!"
Das war, laut Aeris, absolut korrekt. Sie bestätigte selbst,
daß Vincent "alles, nur nicht unhöflich" war. Er kam niemals in ihr
Schlafzimmer ohne ihre Erlaubnis, auch wenn es *sein* Zimmer war. Er
schlief, egal was passierte, auf der Couch im Wohnzimmer, so daß Aeris
das Bett haben konnte. Er machte sogar Platz in seinem Schrank für
Aeris' Sachen, die Tifa ihr zur Verfügung gestellt hatte. Um exakt
sechs Uhr morgens verließ er das Appartment, und kam um fünf Uhr abends
wieder heim; zehn Uhr, wenn er Nachtdienst hatte.
Aber trotz seines ritterlichen Verhaltens sprach er kaum mit
Aeris. Jedesmal, wenn sie ihn Traf, war er entweder in ein Buch
vertieft oder er reparierte gerade eine Waffe. Sein Gesicht strahlte
solche Kälte aus, Aeris fehlte es einfach an Courage, mit ihm auch nur
in einem Zimmer zu sitzen. Kurz gesagt, sie tat ihr Bestes, um ihm
aus dem Weg zu gehen; und er ignorierte sie aus Kaltherzigkeit - das
dachte sie zumindest.
Am Ende der Woche hatte Aeris bereits viel über Tifa und Cloud
gelernt; sie liebten es, mit ihr über alles zu reden. Oft erzählte
Cloud über erlebte Abenteuer, merkwürdige Kreaturen und ferne Länder.
Tifa beschrieb alle Avalance-Mitglieder mit lebhafter Animation. Alle
drei brachen in Gelächter aus wenn Tifa Cait Siths Stimme oder Cids
'einzigartige' Gesten nachmachte.
Es war kein Wunder, daß Aeris sich stark mit ihren Freunden
verbunden fühlte. Manchmal vergaß sie sogar, daß sie "Amnesie" hatte,
oder daß "sie tot war". Sie tat einfach so, als ob sie die beiden schon
lange kennen würde.
Auf der anderen Seite wußte Aeris überhaupt nichts über
Vincent. Cloud hatte ihr einmal zugeflüstert, daß "er ein Turk war",
und erwartete, daß sie das sofort deuten konnte. Aber sie verstand
es nicht, und drehte sich fragend zu Tifa. Die zuckte jedoch nur
mit den Schultern, als ob sie sagen wollte, "Wer weiß das schon?".
Aeris hielt es für seltsam, daß beide, Tifa und Cloud, behaupteten,
Vincents Freunde zu sein, auch wenn keiner auch nur eine Tatsache über
seine Vergangenheit kannte.
Sie wollte ihn selbst fragen, aber sofort kroch die Angst
wieder in ihr Herz, und sie vergaß die Idee ganz schnell wieder.
Aber Aeris konnte nicht anders als sich über ihn zu wundern
wenn Cloud und Tifa zu Besuch kamen. Er saß meistens in einer Ecke und
las ein Buch, wobei ihn Clouds Anekdoten oder Tifas witzige Geschichten
nicht zu interessieren schienen. Cloud und Tifa lachten und erzählten
Witze in seiner Gegenwart, als ob er für sie Luft wäre.
Aber Aeris sah ihn manchmal an, von Zeit zu Zeit. Der Kontrast
zwischen ihm und ihren lebhaften Freunden stach ihr tief ins Herz.
Ich frage mich, warum er immer so düster und in Gedanken
verloren ist..., fragte sie sich.
"Was ist los, Aeris?" lachte Cloud, "Mochtest du den Witz
nicht?"
"Huh? Aber nein!" antwortete sie sofort, aber sie hatte gar
nicht hingehört, als der Witz erzählt wurde. Sie war zu sehr in
Gedanken verloren gewesen.
"Ach, Cloud!" schimpfte Tifa scherzhaft, "Deine Witze sind so
flach, da ist es ja kein Wunder, daß sie nicht gelacht hat!"
Um circa drei Uhr Nachmittags, eine Woche, nachdem Aeris bei
Vincent "eingezogen" war, saß das fröhliche Dreigestirn um den Tisch
in Vincents Wohnzimmer. Vincent saß, wie immer, in seiner Ecke bei dem
Fenster und laß sein Buch. Ein Tablett mit vier Tassen und einem Teller
voller Gebäck stand auf dem Wohnzimmertisch. Tifa hatte die Kekse von
einer nahen Bäckerei mitgeracht, als "etwas Medizin für alle".
In Wirklichkeit hatte Tifa sie für Vincent gekauft; sie wollte
ihm irgendwie ihre Dankbarkeit zeigen. Leider hatte Letzterer sich
nicht gerade sehr darüber gefreut.
"Hey, Vincent!" rief Cloud als er sich einen weiteren Keks in
den Mund stopfte, "Sicher, daß du hiervon nichts haben willst? Schmeckt
gut!"
Vincent blätterte um, ohne auch nur seine Augen von seinem
Buch zu nehmen.
"Okay, tu, was du nicht lassen kannst." setzte Cloud fort, als
ob Vincent ihm geantwortet hätte. Er stopfte sich einen weiteren Keks
in den Mund.
"Cloud, du bist ein Vielfraß!" kicherte Aeris.
"Hey, Cloud!" sagte Tifa und runzelte die Stirn, "Du hast heute
Abend keinen Hunger mehr!"
"Oh... richtig..." entschuldigte sich Cloud als er den Teller
auf den Tisch stellte, "Hab' vergessen, daß du heute Abend was kochst."
In der Tat, Tifa hatte Vincent überreden können, für die ganze
Mannschaft heute Abend das Essen zu kochen. Wie schon gesagt konnte
Tifa es nicht ab, daß sie die gesamte Verantwortung für Aeris auf
Vincent luden. Auch wenn *er* indirekt vorgeschlagen hatte, daß Aeris
bei ihm besser aufgehoben war, fühlte Tifa, als ob sie seine Freund-
lichkeit irgendwie zurückzahlen müsse.
Daher hatte sie den Vorschlag gemacht, für alle das Abendessen
zu machen, und, was viel wichtiger war, daß Vincent mit ihnen essen
würde. Letzteres hatte ein wenig mehr Durchsetzungskraft verlangt.
"Wie du wünscht." hatte er am Ende geseufzt.
"Wo wir gerade dabei sind," kommentierte Cloud, "Wir sollten
langsam losgehen. Wir müssen noch 'ne Menge einkaufen."
"Genau." stimmte Tifa ihm zu, "Aeris, geh und hol deinen
Mantel."
"Okay, bin gleich wieder da!" rief Aeris fröhlich als sie
aufsprang und aus dem Wohnzimmer rannte, um ihren Mantel zu holen.
"Um... Tifa," flüsterte Cloud, nachdem Aeris außer Hörweite
war, "Bist du sicher, daß wir sie mitnehmen sollen?"
"Warum nicht?" fragte sie verwirrt, beinahe schon erschrocken.
"Naja, was ist, wenn diese Männer sie finden?"
Tifa dachte für einen Augenblick nach. Sie sah zu Vincent
hinüber, der jedoch schien ihre Unterhaltung nicht mitzubekommen.
"Das geht schon." versicherte Tifa Cloud, "Ich passe auf sie
auf. Diese Dummköpfe haben vielleicht schon aufgegeben, nach ihr zu
suchen. Und die arme Aeris könnte etwas frische Luft gebrauchen."
"Und wenn sie doch auftauchen, wirst du ihnen schon in den
Hintern treten!"
"Heh!" spöttelte Tifa, "Du weißt, was ich von Leuten halte, die
mich herumschubsen. Besonders Männer!"
Cloud lächelte sie an, und sie fingen beide an, wie kleine
Kinder zu kichern.
Aber ihr Vergnügen war aprupt beendet, als Vincent sein Buch
kraftvoll zuklappte. Beide drehten sich zu ihm, in der Erwartung einer
Erklärung, aber Vincent legte nur sein Buch vorsichtig auf die Fenster-
bank. Als er aufstand, kreuzten sich sein und Tifas Blick. Sie sah eine
Art Leuchten in seinen Augen; er hatte offensichtlich über etwas nach-
gedacht.
Glaubt er, daß es eine dumme Idee ist, Aeris mitzunehmen?
wunderte sich Tifa.
Anstatt zu sprechen ging Vincent auf die Tür zu. Er hätte Aeris
beinahe umgestoßen, als sie durch die Tür gerannt kam, aber er konnte
sie im letzten Augenblick schnappen, bevor sie umfiel.
"Oh... danke, Vincent..." murmelte Aeris beschämt.
Nachdem er den Raum verlassen hatte, standen die drei da, in
Gedanken verloren.
"Was ist denn mit ihm los?" wunderte sich Cloud.
"Ich weiß nicht... er sieht irritiert aus." antwortete Tifa.
Aeris zog schweigend ihren Schal um ihren Hals. Sie fragte
sich, ob Vincent auch dieses Gefühl hatte... Aeris hatte sich genauso
gefühlt, als sie mit zum Einkaufen kommen sollte, aber sie hatte das
Gefühl schnell abgelegt. Es war warscheinlich nur die Aufregung.
"Er denkt über irgendetwas nach." bemerkte Tifa, "Aber er sagt
es uns nicht."
"Ich wette, es ist nicht so schlimm, als daß dein Essen es
nicht wieder hinbekommen könnte!" lachte Cloud, "Ihr kennt ihn. Er ist
immer so. Kein Grund, sich sorgen zu machen. Richtig, Aeris?"
"Äh.. ja!" antwortete sie in einem Versuch, ihre Angst zu
verstecken.
"Siehst du?" sagte Cloud als er Tifa ansah.
"Ich glaube schon." murmelte sie leise.
"Also, laßt uns gehen!" rief Cloud als er Tifa zur Tür zerrte.
"Ah, vorsichtig!" kicherte Tifa.
Aeris jedoch blieb wie angewurzelt im Wohnzimmer stehen. Sie
fragte sich immer noch, was mit Vincent los war. So viele Gedanken
rasten durch ihren Kopf, aber sie konnte nicht einen klar erkennen.
"Aeris!" rief Cloud, "Komm schon! Wir gehen!"
"Bin schon da!" rief sie zurück und rannte ihnen hinterher.
Trotz der eiskalten Luft in Midgar schienen sich die Wolken
über der großen Stadt auf Regen einzustellen. Aber die Straßen waren
nicht weniger belebt als sonst auch. Die Shops und Boutiquen hatten
ihre Türen weit offen um ihre Kunden zu begrüssen, und die Cafes waren
gefüllt mit Angestellten, die ihre Mittagspause geniessen wollten.
Jegliche Art von Geräuschen füllte die Luft; vom eiligen
Murmeln der Geschäftsleute über das gekreische von Kindern,
das gelalle von Bettlern am Straßenrand bis hin zu jungen Leuten, die
sich gegenseitig etwas zuriefen.
Die faszinierte Aeris drehte ihren Kopf von einer Seite zur
anderen, um auch ja kein Detail der Stadt zu übersehen. Cloud und Tifa
sahen sie amüsiert an und beantworteten ihr jede Frage, die sie über
Midgar hatte.
"Cloud... was ist das für ein Gebäude?" fragte sie.
"Oh... das ist ein Regierungsgebäude..."
"Es ist so groß!" murmelte sie erstaunt.
"Sie ist wie ein kleines Kind." bemerkte Cloud als er Tifa zu-
zwinkerte.
Als das Trio um eine Ecke bog, stand vor ihnen eine alte Frau
mit einem kaputten Blumenkorb.
"Na, möchtest du eine Blume?" fragte sie und hielt Aeris eine
hübsche, rosane Blume hin.
"Oh! Wie wunderschön!" rief Aeris und nahm die Blume sofort in
beide Hände. Sie sah Cloud bittend an.
"Ja, sicher." murmelte Cloud, als er in seiner Tasche wühlte,
"Gib dem anderen Mädchen auch eine."
"Cloud, du bist süß!" kicherte Tifa.
"Weißt du, das ist irgendwie lustig..." erklärte Cloud, als sie
ihren Weg fortsetzten.
"Was ist lustig?" fragte Aeris, als sie zu ihm aufsah.
"Bevor... bevor du Amnesie hattest, mochtest du auch Blumen.
Du warst sogar ein Blumenmädchen."
"War ich?" lächelte sie verwundert.
"Jup. Und es ist komisch, daß du alles vergessen hast, bis auf
deine Liebe für die Blumen."
"Blumen haben so viele Bedeutungen," antwortete sie mysteriös,
"Sie symbolisieren Leben, Liebe und Schönheit."
"Man findet sie bloß kaum im Winter." kommentierte Tifa.
"Oh, man kann sie finden, wenn man richtig hinguckt."
"Wie auch immer." murmelte ein verwirrter Cloud. Tifa lächelte
leicht als sie Clouds starken Arm in ihre nahm und ihren Kopf auf seine
Schulter legte.
"Also, hier müssen wir uns kurz tschüss sagen." sagte Cloud
nach ein paar Metern.
"Wo gehst du hin?" fragte Aeris neugierig.
"Cloud muß nach Sektor 4 und uns ein paar spezielle Gewürze für
das Essen kaufen." erklärte Tifa, "Es geht schneller, wenn wir uns
aufteilen. Wir Mädchen gehen hier einkaufen und Cloud holt die
Gewürze."
"Heh heh... woher wollen wir wissen, was er kauft...?" kicherte
Aeris.
"Oh ho! Also zweifelt die kleine Miss Aeris an Cloud Strifes
Fähigkeit, wie?" erwiderte er lachend, "Du vergißt, daß ich ein
Restaurant führe!"
"Nein, Cloud." korrigierte Tifa, "Ich führe es. Du machst es
sauber."
Beide Mädchen brachen in Gelächter aus während Cloud vor Wut
rot wurde. Aber nach einem Moment mußte auch er lachen.
"Okay, Cloud," unterbrach Tifa, "Du gehst jetzt besser, bevor
es anfängt, zu regnen."
"Gut. Wir treffen uns dann bei Vincent."
Cloud küsste Tifa schnell auf die Wange und rannte über die
Straße, bevor die Ampel wieder auf grün schaltete.
"Komm schon," sagte Tifa zu Aeris, "Lass uns gehen."
Die beiden Mädchen gingen schweigend den Boulevard entlang.
Tifa hatte Cloud weggeschickt um Gewürze zu holen, das war wahr; aber
sie wollte auch mal mit Aeris alleine reden. Von Frau zu Frau. Sie
wußte, daß Aeris irgendetwas verheimlichte, und sie wollte rausfinden,
was es war.
Sie erreichten ein großes Gebäude, das mit der riesengroßen
Leuchtschrift "Midgar Supermarkt" versehen war.
"Meine Güte..." bemerkte Aeris.
"Hm." erwiderte Tifa, die gar nicht richtig hingehört hatte.
Als sie einen Einkaufswagen packte, sah sie Aeris an und fragte
sich, wie sie die Unterhaltung am Besten beginnen konnte. Sie schob den
Wagen durch die Einkaufsinseln, und drehte sich um, um sicherzustellen,
daß niemand hier war.
"Aeris?" begann sie, "Geht... es dir gut?"
"Ja, Tifa, ich bin okay..." Aeris sah sie merkwürdig an.
"Nein.. ich meine, fühlst du dich... unwohl?"
Aeris schüttelte den Kopf, aber sie verstand Tifa
offensichtlich nicht ganz.
"Aeris," flüsterte Tifa, "Fühlst du dich unwohl ...mit Vincent
in deiner Nähe...?"
Aeris sah zur Seite, um Tifas Augen aus dem Weg zu gehen.
"Du kannst es mir ruhig erzählen," fuhr sie fort, "Ich weiß,
daß dich irgendetwas bedrückt. Ich will dir nicht zu nahe treten, aber
ich mache mir halt Sorgen. Ist Vincent..."
Sie beendete den Satz mit einer vagen Geste ihrer Hand. Aeris
sah immer noch zur Seite, aber Tifa wußte, daß sie kurz davor war, ihr
etwas zu erzählen.
"Tifa..." flüsterte Aeris schließlich, "Ich glaube... Vincent
haßt mich..."
"Aeris, wir hatten das Thema doch schon mal, und..."
"Nein nein, du verstehst nicht!" schnitt ihr Aeris das Wort ab,
als sie sich umdrehte, "Er ist sehr höflich, und womöglich der einzige
Mann mit solchen Manieren, aber.. aber..."
"Aber?" fragte Tifa, sehr beunruigt.
"Ich glaube nicht, daß er sich um mich aus Freundschaft
kümmert... Es ist irgendwie als ob es seine Pflicht ist, sich um mich
zu kümmern."
"Aber...wie kann er dich dann hassen?"
"Ich weiß es nicht... Aber ich fühle mich, als ob er in mir
irgendetwas sieht, was er haßt... als ob ich irgendwie minderwertig
bin..."
Tifa sah Aeris in die Augen. Das hatte ihr offensichtlich
großen Kummer bereitet.
"Aeris," sagte sie schließlich etwas härter, "Ich glaube, du
bist einfach nur paranoid!"
Aeris blinzelte verwirrt.
"Wenn Vincent dich hassen würde, warum hat er dann diese Männer
erschossen um dich zu retten? Ist das nicht das, was er getan hat, als
ihr euch das erste Mal getroffen habt?"
"Tifa, du verstehst mich nicht..."
"Dann erklär' es, verdammt noch mal!"
"Er... er ist nicht wie Cloud..." murmelte Aeris träumerisch.
Dieses Mal war Tifa verwirrt.
"Was meinst du, 'nicht wie Cloud'?" fragte sie. Ein fremdes
und gleichzeitig bekanntes Prickeln fuhr über ihr Herz.
"Cloud... naja, Cloud kann man einfach erklären. Man kann
sagen, wann er gut gelaunt ist, und wann er schlecht gelaunt ist... und
man kann einfach erkennen, was er gerade denkt."
"Und Vincent?"
"Vincent ist kaltherzig... Ich fühlte mich immer verängstigt
wenn er mir zu nahe kommt. Er sieht irgendetwas in mir, daß er haßt...
und WIE er mich haßt, das beängstigt mich am Meisten, Tifa."
Als Aeris ausgesprochen hatte, war Tifa für ein paar Minuten
ruhig. Sie verstand Aeris jetzt, zumindest teilweise.
Tifa legte eine Hand auf Aeris' Schulter, "Wir beeilen uns
besser, bevor es anfängt, zu regnen."
Die Turmuhr schlug viermal als die beiden Mädchen aus dem
Supermarkt kamen. Jeder von beiden trug eine Tüte, wobei Tifas Tüte
offensichtlich die schwerere war. Als sie den Hauptplatz erreicht
hatten, waren die Lampen bereits angegangen; es wurde sehr schnell
dunkel. Gleichzeitig rollte ein Donner, dessen Quelle allerdings noch
weit entfernt schien. Tifa jedoch störte das Wetter wenig. Sie
überlegte, wie sie am Besten eine zweite Unterhaltung anfangen könnte.
"Aeris," begann sie als sie die Schulter des jüngeren Mädchens
ergriff, "Ich glaube, du mißverstehst Vincent."
Aeris sah Tifa an, als sie eine Fortsetzung erwartete.
"Vincent... naja..." fuhr Tifa fort, "Vincent hat so einiges
durchgemacht. Er hat das niemals wirklich ewähnt, aber ich glaube, er
fühlt sich für irgendwas schuldig, und das scheint ihn manchmal sehr zu
belasten."
"Was meinst du?"
"Ich weiß nicht... Vincent ist ein Meister im Verstecken von
Emotionen.. aber als wir ihn das erste Mal vor knapp einem Jahr
getroffen haben, war er besessen von dieser 'Lucrecia'..."
"'Lucecia'?"
"Und man konnte fömlich sehen, wie die Bittekeit und Schuld
sein Herz zerfraß, auch wenn er sie nie wieder erwähnt hat. Ich... ich
erzähle dir das bloß, damit du weißt, daß Vincent einiges an Sorge in
seinem Herzen trägt."
Aeris war still.
"Und.." setzte Tifa nervös nach, "Ich glaube nicht, daß er dich
haßt, Aeris. Ich glaube, er sieht etwas in dir, was er auch in sich
selbst sieht... als ob ihr beide.. naja... Ich kann das einfach nicht
erklären!"
Tifa stampfte irritiert auf; Sie war sich nicht sicher, ob
sie Vincent überhaupt selbst verstand. Aeris starrte schweigend auf
das Kopfsteinpflaster.
"Tifa," fragte sie plötzlich, "Ist Vincent wegen seiner Klaue
krank?"
"Was...??" fragte Tifa verwirrt.
"Macht ihn seine Klaue krank...?"
"Eigentlich nicht. Zumindest nicht, als ich ihn getroffen
habe."
"Ich..." stotterte Aeris, "Ich glaube, Vincent ist sehr krank.
Erst dachte ich, es sei seine Klaue... aber vielleicht ist es diese
'Schuld'..."
"Was meinst du mit krank?" unterbrach Tifa erschocken, "Köper-
lich krank??"
Aeris wollte ihr von den ganzen Hustenanfällen erzählen, die er
ständig hatte. In der letzten Woche hatte sie ihn bei mindestens
fünf Anfällen erwischt, und das war nur zu Hause!
Sie wollte beschreiben, wie brutal sein ganzer Körper vor
Schmerz zitterte; wie viel Blut durch seine Hände tropfte. All das und
noch viel mehr.
Aber sie hatte in seinen Augen gelesen, daß er wußte, daß sie
ihn bei einem Anfall beobachtet hatte. Und er wollte nicht, daß es die
anderen erfuhren.
"Er... er ist..." stammelte Aeris schließlich.
Aber ein fremdes Gefühl stach so plötzlich und heftig in ihr
Herz, daß sie von Tifa wegsprang. Alle Geräusche um sie herum
veschwanden; sie konnte nicht mal hören, wie Tifa ihren Namen rief.
Doch das pochen ihres Herzens dröhnte in ihren Ohren.
Ihre Einkaufstüte fiel aus ihren tauben Händen und landete auf
dem Bürgersteig. Aber Aeris schien nichts von ihrer Umgebung
mitzubekommen. Sie fühlte etwas böses in der Nähe, irgend'etwas',
daß nur so nach Bosheit roch.
"Aeris! Aeris!!" rief Tifa panisch, als sie Aeris schüttelte.
Aeris drehte sich aggresiv zu Tifa, als ob sie sie noch nie
gesehen hat. Tifa erschrak, als sie die weiten, verwirrten Augen des
Mädchens sah. Ihre Atemzüge wurden lauter und lauter und kalter Schweiß
brach auf ihrer Stirn aus. Einige Passanten sahen sie komisch an und
beeilten sich dann, weiterzugehen, da sie dachten, Aeris sei verrückt.
"Aeris!! Was ist los?!" schrie Tifa.
"T... Tifa..." brachte Aeris zitternd hervor, "S..sie sind..
hier.. sie... haben... haben mich... ge... gefunden..."
"Was?! Was erzählst du da??"
Gesichtslose Leute gingen an Aeris vorbei. So viele laute
Geräusche trommelten auf ihre Ohren ein. Helle Farben und unerkennbare
Schatten tanzten um sie rum. Sie fühlte, wie ihr schlecht wurde. Aber
plötzlich kam jemand in ihr Blickfeld, und alles fror ein.
Sie starrte einen großen Mann mit schneeweißem Haar und pinken
Augen an. Er sah sie von der anderen Straßenseite aus amüsiert an,
während er von einer brennende Zigarette einen Zug nahm, wobei er seine
Hand so hielt, daß man nur seine Augen sehen konnte. Aeris fühlte sich,
als ob diese Augen direkt in ihre Seele blickten.
Als er die Zigarette von seinem Mund nahm, blies er eine kleine
Wolke Rauch aus. Dann lächelte er Aeris freundlich an, als ob er ein
guter Freund von ihr wäre.
Aeris' Füße wurden kalt, als sie das Lächeln sah. Ihre Gedanken
jagdten sich gegenseitig, bis irgendetwas in ihr drinnen einen Befehl
gab: Lauf!
Bevor sie es merkte, versuchte Aeris verzweifelt, sich einen
Weg durch die Menschenmenge zu bahnen.
"Aeris!! AERIS!!!" schrie Tifa ihr hinterher. Sie rannte ihr
hinterher so schnell sie konnte, aber Aeris verschwand in der Menge
spurlos.
Tifa stand mitten auf der Straße. Sie konnte keinen klaren
Gedanken fassen, und sie hatte absolut keine Ahnung, was sie tun
könnte.
Plötzlich jedoch, als ob sie von einem Dämon besessen war,
drehte sich Tifa um und rannte über die Straße. Einige Autos mußten
scharf bremsen und hupten Tifa an.
"Hey!! Paß doch auf!!" schimpfte einer aus seinem Auto.
Aber Tifa vedoppelte ihre Geschwindigkeit nur noch, als sie
den Fußweg runterrannte. Sie rannte an Geschäften, an Leuten, an
Straßen vorbei mit nur einem Gedanken: Sie mußte zu Vincents Appartment
kommen. Sie wußte nicht, was in Aeris gefahren war, aber sie mußte
zurück zu Vincents Appartment gerannt sein! Wo sonst könnte sie hinge-
laufen sein?
Darüber dachte Tifa nach, bis sie merkte, daß sie die Treppen
zu Vincents Appartment hochlief.
Als sie seine Tür erreichte, versuchte sie, sie zu öffnen, aber
erstens war die Tür zu und zweitens steckte kein Schlüssel von außen.
"Vincent!!" rief sie, als sie mit ihrer Faust gegen die Tür
hämmerte, "VINCENT!"
Keine Antwort.
"Scheiße!" fluchte sie. Sie ging zwei Schritte zurück, nahm
Anlauf und rannte die Tür mit ihrer Schulter ein. Die Tür gab sofort
nach und Tifa stolperte in das Appartment.
"VINCENT!!!" schrie sie, so laut sie konnte.
Aber nur ein Echo antwotete ihrem Schrei. Schien so, als ob
niemand zuhause war. Jetzt war nicht nur Aeris verschwunden, sondern
auch Vincent!
"Verdammt!" stieß sie hervor.
Sie hörte ein paar Schritte hinter ihr, also drehte sie sich
auf einem Hacken herum. Zu ihrer großen Erleichterung stand Vincent
in der Tür, mit einem Paket in der Hand. Er blinzelte ungläubig, als er
erst Tifa und dann die eingerannte Tür ansah.
"Wo zur Hölle warst du?!" fuhr Tifa ihn an.
"Ich... ich war bei der Post, um ein Buch abzuholen..."
stammelte er, überrascht von Tifas bösem Ton. "Tifa... was ist
passiert?"
"Vincent," keuchte sie, "Aeris.. ist weggelaufen!"
Er kniff die Augen zusammen, sagte aber nichts.
"Ich weiß nicht, was passiert ist," erklärte Tifa, "Wir sind
rumgelaufen, und sie war okay... Cloud hat ihr sogar eine Blume
gekauft... Und dann... dann..."
"Ruhig, ganz ruhig."
"Dann passierte es auf einmal! Sie guckt sich um, als ob sie
jemand erschießen will, murmelt igendwas und rennt weg!"
"Was hat sie gesagt?"
"Keine Ahnung!" schnappte Tifa, irritiert von Vincents Ruhe,
"Irgendwas von wegen 'Sie haben mich gefunden'. Sie sah sich um,
und hat dann den Verstand verloren!"
"Wo ist das passiert?"
"Auf dem Hauptplatz!"
"In welche Richtung ist sie gelaufen?"
"Ah? Ich glaube, nach Norden..."
Vincent dachte einen Augenblick angestrengt nach.
"Ich bin ihr noch hinterhergerannt, aber sie war verschwunden.
Ich dachte, sie würde vielleicht hierher--"
Vincent warf sein Paket plötzlich in den Flur und rannte raus,
ohne auch noch eine Sekunde zu warten.
"Vincent!!" rief Tifa ihm hinterher, "Wo gehst du hin??"
Sie lief ihm aufgeregt nach, aber er war schnelle als sie.
Tifa war still für ein paar Minuten bevor sie zu seinem
Appartment zurückkehrte. Sie untersuchte die Tür und errötete leicht.
"Großartig." murmelte sie, "Ich rege mich auf, und Vincents Tür
bekommt alles ab."